Sonntag, 1. September 2024
Sonar
Ich weiß nicht mehr wie, aber ich bin auf den Prioritätenstreit zwischen Newton und Leibniz gestoßen. Jedenfalls erwarb ich, um mehr darüber zu erfahren, dieses Buch:

Die Geschichte des Prioritätenstreits zwischen Leibniz und Newton
Thomas Sonar
Springer Verlag 2016
614 Seiten
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Ich begann bereits eine Weile vor unserem Urlaub und konnte die Lektüre jetzt endlich abschließen. Es ist die Art von Buch, wo man immer nur ein paar Seiten am Abend lesen kann. Eigentlich sind es 543 inhaltliche Seiten, die zudem von vielen Abbildungen aufgelockert werden. Zitate und Buchtitel erscheinen in zwei Sprachen und ich habe stets nur eine Version gelesen.

Unter Priorität versteht man in der Wissenschaft, wer etwas zuerst herausgefunden und veröffentlicht hat. Bei Newton und Leibniz geht es um die Infinitesimalrechnung, also Differentiation und Integration. Newton nannte es Fluxionenrechnung und Leibniz Kalkül bzw. Calculus, die aber beide äquivalent sind und im Wesentlichen unterschiedliche Notation verwenden. Darüber, wer es zuerst gefunden hat, ist zu Lebzeiten ein Streit entbrannt, der bis über deren Tod hinaus anhielt. Das Buch schildert die Umstände und Details des Konflikts, seinen Verlauf und seine Akteure. Ich will interessante Aspekte wiedergeben.

So wie ich es verstanden habe, hat Newton die Entdeckung deutlich vor Leibniz gemacht, allerdings nicht veröffentlicht. Leibniz war zwar später dran, hat aber als erster veröffentlicht. Fraglich ist, ob Leibniz in der Zwischenzeit Informationen erhalten hat, die ihn quasi zu einem Plagiat verleiteten. Jedenfalls wurde Leibniz des Plagiats bezichtigt (auch durch Newton) und es bildeten sich zwei Lager damaliger Gelehrter (damals war die Mathematik gerade erst im Entstehen und die damaligen Wissenschaftler widmeten sich gleichzeitig verschiedenen Disziplinen, wie man heute sagen würde), also auf britischer und kontinentaler Seite. Leibniz diskreditierte sich auch dadurch, daß er eine Rechenmaschine versprach, die er bis zum Lebensende nicht fertigstellte. Es hat lange gedauert bis Leibniz in Großbritannien halbwegs rehabilitiert wurde. Das hatte durchaus nationalistische Gründe – entgegen der heutigen Vorstellung, daß Wissenschaft objektiv und frei von Vorurteilen sein sollte.

Newtons Fluxionenrechnung war komplizierter und er verwendete auch eine andere Notation. Leibnizens Kalkül entspricht im Prinzip dem was wir heute kennen, zB dx/dt. Das führte irgendwie dazu, daß die kontinentalen Mathematiker schneller Fortschritte machten, während die in Großbritannien in einer nationalistischen Bubble (würde man heute sagen) hängen blieben, was die britische Mathematik stark zurückwarf. Ein strittiger Punkt waren beliebig kleine Größen. Die damaligen Gelehrten konnten damit nicht umgehen, und der Grenzwert wurde erst deutlich später eingeführt und verstanden.

Newton gilt und galt als ausgesprochenes Genie. Neben den mathematischen Errungenschaften fand er schließlich auch das Gravitationsgesetz, das von Leibniz und seinen Kollegen abgelehnt wurde, weil er es nicht begründen konnte. Ausschlaggebend für die Akzeptanz (zumindest unter den britischen Gelehrten) war, daß sich daraus die Keplerschen Gesetze herleiten ließen. Leibniz und viele Gelehrte auf dem Kontinent hielten an der Wirbeltheorie von Descartes fest.

Auch heute gibt es noch Prioritätenstreit. Dabei ist aus meiner Sicht die Veröffentlichung ausschlaggebend. Strittig ist, wie Konferenzvorträge zu bewerten sind. Bei Newton und Leibniz war das alles etwas komplizierter, weil der Wissenschaftsbetrieb noch nicht so etabliert war. Zwar gab es bereits Buchdruck, aber die Kommunikation per Brief war aufwändig und Kopien waren nur in der Form von Abschriften möglich. Zudem kommunizierten die beiden über Dritte, z.B. über die damals gegründete Royal Society.

Im Folgenden will ich ein paar Kuriositäten bzw. Zitate wiedergeben.
- Damals war es offenbar üblich Anagramme zu verwenden, um verschlüsselte Botschaften zu veröffentlichen. Ziel war es, zu einem späteren Zeitpunkt, das Anagramm aufzulösen und somit zu zeigen, daß man etwas schon früher entdeckt hatte. Dadurch wurden Ergebnisse zurückgehalten, eine Form des Taktierens.
- Newton war ein seltsamer Kauz und manche Autoren vermuten eine homosexuelle Beziehung (S.307). Als aus der Beziehung nichts wurde, verfiel er in eine Melancholie (S.315).
- „Newton entwirft ein Konzept Gottes und folgert die Existenz von absoluten Raum und absoluter Zeit als Konsequenz von Gottes unendlicher Ausdehnung und seiner unendlichen Dauer“ (S.435).
- „In Leibnizens Metaphysik ist Gott notwendig, da er die Naturgesetze und das Universum einmal in Gang gesetzt hat, aber vom Zeitpunkt der Schöpfung läuft dieses perfekte Uhrwerk von selbst weiter“ (S.446).
- „Dort ,beweist’ Newton, daß der Tag des jüngsten Gerichts nicht vor dem Jahre 2060 kommen wird“ (S.470).
- Newton ist viel besser erforscht. Von Leibniz scheint es aber auch einen großen Nachlaß zu geben, der aber aufgrund des Latein wenig erforscht zu sein scheint.

In seinem Epilog kommentiert der Autor zusammenfassend:
„Ja, unbestreitbar war Newton im Alter rachsüchtig und hinterhältig. Er agierte und agitierte hinter den Kulissen bei der Abfassung des ,Commercium epistolicum’s, das Leibniz offiziell zum Plagiator verdammte, in feiger Art und Weise. In der Entwicklung hin zu diesem finalen Vernichtungskrieg hat aber auch Leibniz nicht immer mit offenen Karten gespielt. Der Newton vor 1700 war sicher ein komischer Kauz, reizbar, verschlossen und unfähig, auf die Kritik anderer an seiner Arbeit vernünftig zu reagieren. Der Streit mit Hooke über die Farben war ihm höchst unwillkommen, aber wusste er es nicht wirklich besser? Dass Hooke dann noch die Newton’sche Gravitationstheorie für sich beanspruchte, muss Newton tief getroffen haben. Leibniz hatte den Vorteil, durch seine frühen Publikationen hochintelligente Mitstreiter um sich zu scharen – wir haben die Bernoulli-Brüder und den Marquis de l’Hospital kennengelernt. Newton war viel zu verschlossen, um eine solche Klasse von Mitstreitern um sich zu scharen; für ihn kämpften doch eher jene, die nicht zur ersten Garde der Mathematiker gehörten. Die englischen Krieger handelten aus nationalen Motiven und aus Gründen der Verehrung für Newton; nicht etwa aus einem tiefen mathematischen Verständnis heraus. Außerdem kam er mit seinen Veröffentlichungen viel zu spät. Die ,Epistolae’ haben Leibniz keine Feinheiten der Newton’schen Mathematik verraten, aber immerhin schrieb Newton sehr offen, wenn man bedenkt, dass er an einen ihm völlig Fremden schrieb.

Wenn wir ein wenig in Richtung kontrafaktischer Geschichte im Sinne des Historikers Alexander Demandt [Demandt 2011] denken, dann können wir versuchen uns vorzustellen, was geschehen wäre, hätten Newton und Leibniz gemeinsam in Freundschaft an der neuen Mathematik (und der Physik) gearbeitet. Hätten dann noch Männer wie Johann Bernoulli und Brook Taylor gemeinsam dazu beigetragen, wie schnell wären wir dann auf einen Stand gekommen, den erst Euler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichen konnte?“ (S.539f).

Eigentlich handelt es sich eher um ein Fachbuch, aber für Interessierte an Wissenschaftsgeschichte („Mutter aller Prioritätenstreite“) könnte es trotzdem spannend sein. Etwas unzufrieden war ich mit dem Duktus des Buches. Der Autor entwickelt das Buch um den Konflikt, verwendet aber kriegerische Ausdrücke. Abgesehen davon erinnert das Buch ein bißchen an die Vermessung der Welt – nur eben möglichst wahrheitsgetreu. Newton und Leibniz waren über 100 Jahre früher unterwegs als Humboldt und Gauß. Ich erwarb ein gebrauchtes Buch für 30EUR. Normalerweise ärgere ich mich, wenn jemand Notizen ins Buch schreibt und Stellen anstreicht. In diesem Fall ist es aber ganz interessant, weil der vorherige Besitzer Fehler, vor allem der Rechtschreibung, anmerkte.


Hashtag: Literaturquadrat.