Donnerstag, 21. April 2022
Die Reise hat kein Ende
Jetzt bin ich endlich mit dem Buch durch, das ich gefühlt die letzten sechs Monate gelesen habe. Es handelt sich um "Die Reise - Romanessay" von Bernward Vesper. Im folgenden beziehe ich mich auf eine Ausgabe von 1978, März-Verlag KG, Jossa 1977. Ich hatte den Film Wer wenn nicht wir (2011, Andres Veiel) gesehen und dachte mir, das Buch könnte interessant sein.

Es handelt sich um ein langes (500+ Seiten), wirres Buch, so daß ich gar nicht recht weiß, womit ich beginnen soll. Ich fange vielleicht damit an, wie der Autor es selbst darstellt. "Es ist die versuchsweise genaue Aufzeichnung eines 24stündigen LSD-Trip, und zwar sowohl in seinem äußeren wie in seinem inneren Ablauf. Der Text wird dauernd durch Reflexionen, Aufzeichnungen aus momentanen Wahrnehmung usw. unterbrochen; im gesamten Inhalt erscheint aber deutlich meine Autobiographie ..." (S.544) und "Für mich heißt der Text: Die Reise", weil hier auf verschiedenen Ebenen gereist wird: erstens die reale Erzählebene, die Reise von Dubrovnik nach Tübingen. Zwetens der Trip München-Tübingen, drittens die Rückerinnerung" (S.547). Beide Passagen entstammen der Korrespondenz mit dem Verlag, die am Ende des Buches angehängt sind.

Tatsächlich kam mir vor allem die erste Hälfte wie ein Trip vor und ich denke, man kann lange Teile des Buchs nur erleben. Es besteht aus zusammenhangslosen(!) Fragmenten, und Personen tauchen scheinbar beliebig auf. Die tatsächlichen Reisen wirken bisweilen wie ein Roadtrip. Es handelt sich um eine wirre Aneinanderreihung von Gedanken und Erinnerungen, aufgelockert durch lesbare Passagen, oft Schilderungen aus seiner Kindheit, vom Hof der Eltern, aber auch andere kleinere Geschichten. Dabei tauchen immer wieder Personen wie Rainer Langhans, Dieter Kunzelmann und Gerd Conradt auf. In der ersten Hälfte dominiert der Trip, was den Einstieg erschwert. Wer daran scheitert, will vielleicht bei der Autorendatierung [62] einsteigen.

Bevor ich abschließend ein paar für sich selbst sprechende Zitate bringe, will ich noch etwas zum Kontext des Autors sagen. Bernward Vespers Vater war der völkische Dichter Will Vesper, der mich an Münchhausen erinnert. Bernward war mit Gudrun Ensslin verlobt, die den gemeinsamen Sohn Felix gebar. Allerdings lernte sie Andreas Baader kennen und trennte sich von Bernward. Letzterer schrieb das Buch zwischen 1969 und 1971, das aber Fragment blieb, weil er sich in der Psychiatrie das Leben nahm. Ensslin ging 1972 in den Untergrund und starb 1977 in Stammheim. Felix war bis 1969 beim Vater und wuchs dann bei Pflegeeltern auf.

Die Korrespondenz zwischen Autor und Verlag am Ende des Buches liest sich teils unterhaltsam, weil Vesper einen beachtlichen Vorschuß bekam und der Verlag 1973 pleite ging (mir ist unklar, ob es da einen Zusammenhang gab). Das Buch ist erst 1977 erschienen.

Zitate:
"Ich glaube, die Liebe zu einem Land, auch der Patriotismus, ist eine Antwort auf die Verzweiflung, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein" (S.23f).
"Wir haben heute nur die Wahl, mit den Russen kolchosisiert zu werden, oder mit den Amerikanern vertrustet" (S.130).
"Ich freute mich, daß ich den Proleten Jesus endlich verstanden hatte, der vor zweitausend Jahren den Gott herausforderte, aber Gott hatte versagt" (S.204).
"Ich habe nicht darum gebeten, Europäer werden zu dürfen, geboren als Deutscher im Jahre 1938 in einer Klinik in Frankfurt an der Oder, als Kind von Mittelklasseeltern, die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich anhingen" (S.220).
"Sie vermitteln sich hinreichend über das 'haben' - was interessiert sie das 'sein', das sie für einen höheren Wert halten, den man nicht real einlösen kann?" (S.271).
"'Katzen', sagte mein Vater eines Abends, 'sind eine fremde, unberechenbare Rasse. Sie passen nicht zu uns. Sie stammen aus dem Orient, aus Ägypten'" (S.337).
"Der mit Lust und Kraft abgeführte duftende Scheißhaufen in der Schüssel" (S.392).
"Einige hunderttausend Jahre, nachdem der letzte Mensch zu handeln aufhört, werden die Spuren dieser Rasse in die Erdrinde unerkennbar integriert sein" (S.412).
"Deutschland, Deutschland ohne alles/ohne Butter, Fleisch und Speck/ und das bißchen Marmelade/frißt uns die Besatzung weg" (S.505).

Siehe auch: Vesper's Reise


Hashtag: Literaturquadrat.


Nachtrag (21.4.2022): mehr zu Vesper, Ensslin, Baader gibt es hier; die süddeutsche anläßlich der Neuausgabe