Freitag, 4. Oktober 2019
ausgesiemenst
Inzwischen habe ich die Lebenserinnerungen Werner von Siemens durchgelesen*. Ich muß sagen, es handelt sich durchaus um eine spannende Lektüre, wenn man sich für die Industrialisierung und die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert. Viele seiner Leistungen bringt man gar nicht mehr mit ihm in Verbindung.

Aus heutiger Schicht vertrat er auch widersprüchliche Ansichten. Einerseits war er Nationalist und schreibt mit Bezug auf den Deutsch-Dänischen Krieg: "So lange waren die Deutschen nur passives Material für die Weltgeschichte gewesen; jetzt konnte man zum ersten Male schwarz auf weiß in der Times lesen, daß sie selbsttätig in den Lauf derselben eingriffen und dadurch den Zorn derer erregten, die sich bisher für allein dazu berechtigt gehalten hatten" (S.186; ich denke, das spiegelt die Stimmung vor dem 1. Weltkrieg ganz gut wieder).
Andererseits antizipierte er eine Europäische Union im Zusammenhang mit dem damaligen Protektionismus der USA. "Das durch hohe Schutzzollbarrieren zerrissene Europa gewinnt dadurch Zeit, die Gefahr seiner Lage zu erkennen, die ihm den Wettbewerb mit einem zollfreien Amerika auf dem Weltmarkte unmöglich machen wird, wenn es ihm nicht rechtzeitig als merkantil organisierter Weltteil gegenübertritt ... Es kann dies nur durch möglichste Wegräumung aller innereuropäischer Zollschranken geschehen ..." (S.207f).

Interessant ist auch, daß er zum 25-jährigen Bestehen des Unternehmens eine Pensionskasse einführte, die er aber auch dazu verwendete, Streiks zu verhindern.


* Werner von Siemens. Lebenserinnerungen. Prestel-Verlag, München, 1986. 18., durchgesehene Auflage.


Nachtrag (6.12.2019): Literaturquadrat